Es gibt Apps, die uns sagen, ob wir genug Schritte oder Kalorien am Tag verbrauchen, es gibt Ratgeber die dir vermitteln wollen, wie man ein/e bessere/r Mutter/Oma/Vater/Opa, wie man ein guter Liebhaber/in ist, wie man sein Haus und seine Klamotten am besten organisiert, welche Ernährungsform die beste wäre, und und und…
Scheinbar gibt es eine richtige „Selbstoptimierungsindustrie“, die uns mit der Aussage lockt: „So machst du es besser.“ Was macht dieser Trend mit uns? Ist er gut für uns?
Wann wurde aus Selbstentfaltung eine Anforderung, ein Zwang zur Selbstoptimierung?
Ich glaube es liegt in der Natur des Menschen, dass er immer besser und schneller in allem werden möchte. Fitnesskonzepte, die täglich nur 5 bis 7 Minuten in Anspruch nehmen, sollen dich schneller fit und schlank machen als ein dreistündiger Waldlauf. Ernährungskonzepte versuchen in Form von Shakes, Pillen oder Fertiggerichten (oder einer Kombination aus allen drei Methoden) dir deine benötigten Nährstoffe und Kalorien zuzuführen, ohne viel Zeit in Anspruch zu nehmen. Gleichzeitig sollen sie dir beim Abnehmen helfen.
Und wofür?
Wir möchten nun einmal Superman/-women sein. Im Job volle Leistung bringen, das Haus/die Wohnung muss immer super geputzt und aufgeräumt sein, das Essen am besten wie vom Sternekoch, dazu noch eine makellose Figur – ach und für unsere Freunde hat man natürlich immer Zeit.
Das wünscht sich doch jeder, oder?!
Mit Hilfe der Apps können wir (angeblich) unsere Zeit optimal einteilen und überall volle Leistung bringen. So wird uns suggeriert, dass wir mehr Zeit mit den Freunden oder der Familie verbringen könnten – oder mehr Zeit für andere Hobbies hätten.
Doch ist das wirklich so?
Nutzen wir die Zeit tatsächlich für die Dinge, die wir uns vorgenommen haben? Wenn wir mal ehrlich sind, endet es häufig darin, dass wir doch wieder ein paar Überstunden mehr machen, oder nicht? Oder wir versuchen ganz heimlich vielleicht doch mal irgendwo noch eine Verschnaufpause einzuschieben. Das ist ja auch nicht verwerflich, schließlich braucht jeder Mensch auch mal Pausen.
Selbstoptimierung kostet Energie
Wenn du ständig mit der Optimierung deines ICHS beschäftigt bist, ist das auf die Dauer sehr anstrengend. Du bist ständig im Modus des bewussten Denkens und musst dich irgendwie überwachen. Du denkst vielleicht, dass die App das doch übernimmt, aber du musst das was die App an Informationen gibt immer wieder auswerten und umsetzen. Du musst deine Leistung bewerten und ständig hinterfragen. Da fehlt der „flow“ im Leben.
Nicht umsonst gibt unser Gehirn uns die Möglichkeit Gewohnheiten einschleichen zu lassen. Sie sparen nämlich Energie. Wenn Kinder laufen lernen, ist das auch für das Gehirn eine große Anstrengung. Am Anfang muss man über jeden Schritt nachdenken. Später geht man einfach los und kann im Gehen sogar noch das Handy bedienen, die Straße beobachten und essen.
Wer bin ich und wer will ich sein?
Ich frage mich dann manchmal: was war denn falsch daran, wie ich es vorher gemacht habe? Gut, dann brauchte ich vielleicht eine halbe Stunde um mein Essen zuzubereiten. Na und? Dafür konnte ich während des Kochens mal etwas abschalten und nicht an meinen Job denken.
Einen Überblick über die Anzahl an Kalorien habe ich nicht – aber ist das schlimm? Dass ich persönlich sowieso kein großer Fan vom Kalorienzählen bin, weißt du sicherlich inzwischen (mehr dazu HIER).
Und dann gibt es auch noch Apps, die unseren Schlaf überwachen. Auch dieser kann angeblich optimiert werden. Schon etwas verrückt, wenn man sicher überlegt, dass man genau das, was uns endlich mal Erholung bieten soll, auch noch optimieren möchte.
Wo wird uns dieser Optimierungswahn hinführen? Werden wir uns dank der App tatsächlich besser ernähren? Werden wir die adipösen Menschen von ihrem krankhaften Übergewicht so wegbekommen? Wird der Bürohengst deswegen mehr Schritte pro Tag zurücklegen, nur weil seine App ihm mitteilt, dass er sein Tagesziel noch nicht erreicht hat?
Oder setzen wir uns mit den Apps nur noch mehr unter Druck?
Die Macht der Zahlen
Unser Körper wird als Maschine gesehen, an dessen Effizienz wir einfach herumschrauben können. Mit Hilfe der Apps können wir (angeblich) noch mehr aus unserem Körper herausholen. So hatte ich mich neulich mit einem abnehmwilligen Kunden im Fitnessstudio unterhalten, der seinem Körper gerne einen neuen Impuls geben würde. Ich empfahl ihm Intervalltraining und war ganz überrascht als die Antwort hieß: „Nein, das kann meine App nicht. Dann weiß ich nicht wie viel ich essen darf.“
Ähm, bitte was?
Ich bin doch kein Computer/Maschine. Vorrübergehend kann eine App vielleicht hilfreich sein, aber sollte das Ziel nicht sein, dass man nachher OHNE App auskommt? Ja, keine Frage, das ist sicherlich ein Lernprozess, aber wenn ich schon so „abhängig“ von meinen Zahlen bin, dass ich nichts Neues ausprobieren kann, weil die App das nicht kann, läuft doch etwas falsch, oder?!
Das Individuum – eine aussterbende Spezies?
Wir befinden uns im Leistungswettbewerb auf allen Ebenen. Egal ob es um das Thema Ernährung, Sport/Fitness, Job oder Privatleben geht, es ist alles ein Wettbewerb. Selbst der Versuch etwas zu verändern artet darin aus. Veganer werden angefeindet, wenn sie nicht „konsequent“ sind und Lederschuhe tragen. Wer nicht zu 100% vegan, Paleo oder was weiß ich lebt, gehört nicht zur „Community“. Kleine Ausrutscher werden nicht verziehen.
Müssen wir denn alles immer so dogmatisch sehen?
Das Mängelexemplar Individuum hat hier scheinbar keinen Platz. Vielleicht möchte ich mich unter der Woche gerne vegan ernähren, aber am Wochenende gönne ich mir mal ein gutes Stück Bio-Fleisch. Ist das denn so verwerflich?
Als Veganer würde ich mich dann zwar nicht bezeichnen, aber damit tue ich der Umwelt und dem Tierwohl schließlich trotzdem etwas Gutes.
Wettbewerb im Sportbereich
Ähnlich sieht es im Sportbereich aus. Ich persönlich mache unheimlich gerne Sport, da ich Freude an der Bewegung habe. Außerdem fühle ich mich danach einfach besser. Allerdings höre ich immer auf meinen Körper. Es gibt Tage, da signalisiert er mir, dass ich nicht ganz so viel Gas geben sollte. Das ist vollkommen in Ordnung – ich muss nicht immer 100% geben. Ich zähle weder Kalorien, noch habe ich einen Trainingsplan, der mir sagt welche Übungen am effektivsten sind. Ich mache das einfach nur aus Lust und Freude an der Bewegung. Aber für mich ist das ein Hobby. Ein Leistungssportler muss da natürlich ganz anders an die Sache ran gehen.
Allerdings sind die wenigsten Nutzer dieser Fitness-Apps Leistungssportler. Ein Leistungssportler hat meist seine persönlichen Berater, die ihm dabei helfen besser zu werden. Aber auch hier hat der Leistungssportler ein gutes Körpergefühl und kann sagen wann genug ist.
Finde die richtige Dosis
Wie in so vielen Bereichen im Leben, macht die Dosis das Gift. Wer sich zu sehr auf seine Zahlen und Apps verlässt und eher schon „krankhaft“ versucht besser zu werden, wird nicht zum Ziel kommen. Ebenso ist gegen eine gewisse Portion Ehrgeiz natürlich nichts auszusetzen. Selbstverständlich will man sich weiter entwickeln, das ist auch gut so. Aber das richtige Maß zu finden, führt hier zum Erfolg.
Betreibe Selbstoptimierung nur so intensiv, wie es DIR tatsächlich gut tut und du das Gefühl hast: ja, es passt!
Fazit
Das Fazit wird heute eher eine Aufforderung. Eine Aufforderung zu mehr Freiheit. Vergleiche dich nicht mit anderen, sondern finde deinen Weg. Es muss nicht immer alles perfekt und dogmatisch betrachtet werden.
Finde dein Yin und Yang – egal in welchem Lebensbereich. Das gilt für den Sport, für den Beruf, für die Ernährung – alles. Es gibt kein Konzept, das für alle passen wird, daher ist es deine Aufgabe dir einzugestehen, dass du ein Individuum bist. Und jedes Individuum darf so sein, wie es ist – mit all seinen Ecken und Kanten.
Versteh mich bitte nicht falsch – ich habe nichts gegen Ehrgeiz. Auch bin ich der Meinung, dass man häufiger mal etwas Neues ausprobieren sollte und vorhandene Gewohnheiten/Regeln gerne ändern darf. Ein organisches System, dass sich nicht mehr bewegt ist tot.
Aber mach das, weil DU es willst. Mach es aus eigenem Antrieb und nicht weil deine App dir das Signal gegeben hat. Und hadere nicht mit dir, wenn du nicht alles perfekt hinbekommst.
Finde den Mittelweg, der für DICH passt!
Wie siehst du das Thema? Magst du diese Selbstoptimierungs-Apps oder gehen sie dir auf die Nerven?